Lichtatmen
Alles in mir schrie nach Flucht und Weglaufen, aber wohin? In verzweifelter Hast schaute ich mich um und entdeckte links neben mir in der Dunkelheit einen noch dunkleren Fleck: ein Durchgang in der Wand. Sofort kroch ich hindurch und fand mich in einem weiteren Gang wieder, durch den ich mich im Dunkeln entlang tastete. Vor mir schimmerte es grau und nach wenigen Metern erreichte ich das Ende des Ganges.
Er mündete in den Raum, aus dem ich soeben geflohen war und nun wurde meine Angst zur Panik. Die mich verfolgenden Toten kamen von allen Seiten auf mich zu, auch hinter mir im Gang hörte ich ihre Schritte langsam näherkommen. Der einzige freie Weg, den ich sah, war der zur Bühne. Von schrecklicher Angst erfüllt hastete ich dorthin, schwang mich auf das Podest. Als ich mich umdrehte, sah ich mich von den Toten umringt. Sie streckten ihre Arme nach mir aus und ich konnte aus nächster Nähe in das Dunkel ihrer leeren Augenhöhlen blicken.
In diesem furchtbaren Moment ertönte ein weiteres Mal die Stimme das unsichtbaren Regisseurs, ich konnte vor lauter Angst die Worte nicht verstehen, doch die Toten hörten auf sie und blieben stehen. Einige von ihnen hoben wie von unsichtbaren Fäden gezogen ihre Masken vor die verfallenen Gesichter und damit begann das makabre Theaterstück erneut. Nur diesmal mit mir in der Hauptrolle.
Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten und worum es in dem aufgeführten Stück überhaupt ging. Es schien nur eine endlose Abfolge zu sein von Dialogen, Verhören ähnlich oder Gerichtsverhandlungen. In denen immer die gleichen vermeintlichen Vergehen oder Regelverstöße erörtert und ich zur Rede gestellt wurde, Stellungnahmen abgeben oder mich gegen bizarre Anschuldigungen verteidigen sollte. Alles wiederholte sich in endlosen Schleifen, wie ein Tonband, das immer wieder von vorn abgespielt wurde.
Und im Hintergrund lauerte die Angst, etwas Falsches zu sagen oder es der Horde und ihrem unsichtbaren Anführer aus irgendwelchen anderen, für mich nicht erkennbaren Gründen nicht recht zu machen. Ich war von der schrecklichen Gewissheit erfüllt, dass der kleinste Fehler meinerseits die sofortige Aburteilung und Urteilsvollstreckung nach sich ziehen würde. Wie das angesichts dieser Situation aussehen würde, wollte ich mir lieber nicht vorstellen, also machte ich immer weiter.
Wie lange das so ging, weiß ich nicht mehr, nur dass ich plötzlich eine Veränderung des grauen Zwielichtes bemerkte, welches die beschriebenen Szenen mehr verbarg als beleuchtete. Das Dämmerlicht wurde irgendwie, wie soll ich sagen? Wärmer. Auch die Raumtemperatur erhöhte sich mit einem Mal. Und als ich aufblickte zur niedrigen Kellerdecke, entdeckte ich dort direkt über der Bühne einen dunkelroten Fleck, der sich schnell vergrößerte und dabei immer heller wurde, über Hellrot zu Orange und schließlich Weiß. Es sah aus, als würde die Stein-Decke schmelzen, transparent werden und das Tageslicht hereinlassen. Und dann sah ich mitten in der Helligkeit ein Gesicht.
Genauer gesagt, ich sah das Gesicht eines mir wohlbekannten Riesen (siehe „Das Logbuch des Phantastonauten, 24. Mai 2020: Der Kopflose Riese“) und dieser stand über der nun klar zu erkennenden Öffnung in der Decke, blickt auf uns herab, holte tief Luft und blies seinen Atem ein weiteres Mal mit der ganzen Kraft seiner gewaltigen Lungen auf die halbgeschmolzene Steindecke.
An dieser Stelle komme ich nicht umhin, in meiner Eigenschaft als Erforscher des Phantastischen und praktizierender Phantastonaut, Folgendes anzumerken: Der weitverbreitete Glaube, dass Riesen Feuer spucken können, ist eine irrige Annahme, die leider auch an vielen Stellen der einschlägigen Literatur zu finden ist. In Wahrheit ist es so, dass die Riesen einfach nur Licht atmen können. Was ich nun aus nächster Nähe miterleben durfte.
Der Effekt auf meine Peiniger war sehr eindrucksvoll. In dem hellen Licht sah ich zuerst nur, wie aus den leeren Augenhöhlen ihrer Masken schwarze Tränen hervorkamen. Und die Toten sanken zu Boden, zerschmolzen und zerfielen im hellen Licht zu grauem Staub, der vom Atem des Riesen spurlos davongeweht wurde. Kurze Zeit später stand ich allein auf der Bühne, über mir das nun sehr große Loch in der Decke und darüber wiederum der Riese, der freundlich auf mich herabsah. Wortlos, wie üblich.
Hinter mir vernahm ich ein Rascheln, und mich umdrehend sah ich eine schwache Bewegung des Vorhangs, als würde jemand dahinter verschwinden, möglicherweise der Regisseur des Theaters, den ich im Stillen nur den Puppenspieler nannte.
Im Gegensatz zum Riesen überhaupt nicht wortlos, war die Gestalt, die sich mir nun von der Seite der Bühne näherte: Der Käpt`n, dem ich schon häufig zuvor in oft ausweglosen Situationen begegnet war (siehe „Das Logbuch des Phantastonauten, 30. Juli 2020: Die Reise in das Land hinter der Zeit, Teil 2“), und der mich nun wortreich und mit festem Griff von der Bühne komplimentierte. Er führte mich zur Seite, wo wir durch eine unscheinbare Tür traten, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, die dem Käpt`n aber wohlbekannt schien.
Wir standen, für mich vollkommen unerwartet, im Nebeneingang eines großen Saals, genauer gesagt eines Theatersaals. Nicht in einem Keller, sondern einem richtigen Theater. Und der Vorhang öffnete sich nun und gab den Blick auf die Bühne frei, wo ich soeben mein schreckliches Abenteuer erlebt hatte. Doch nun war die Bühne hell erleuchtet und wirkte dadurch freundlich und einladend.
Als ich mich fragend dem Käpt`n zuwenden wollte, bemerkte ich, dass er sich nicht mehr neben mir befand, sondern vielmehr im vollen Rampenlicht auf der Bühne stand, wo er unter dem wohlwollenden Applaus des Publikums die einleitenden Worte zu einem seiner mir wohlbekannten Vorträge sprach. Ich ließ mich erschöpft und müde in den letzten leeren Sitz in der ersten Reihe sinken, der anscheinend für mich reserviert war. Glücklicherweise war ich nun in der Rolle des Zuschauers, und ich beschloss, den nun folgenden Teil zu genießen.