Dass das Leben als Phantastonaut nicht einfach ist, erwähnte ich sicherlich schon an anderer Stelle. Und auch bei den Ereignissen, die sich in der letzten Woche zutrugen, ging es um bedeutend ernstere Dinge als Blümchenpflücken auf der Einhornwiese. Das Einzige, was den Schrecken des nun folgenden Berichtes ein wenig abmildert, ist die Tatsache, dass das alles selbstverständlich nur im Reich der Phantasie stattgefunden hat. Alternative Fakten gibt es in Märchen glücklicherweise auch nicht …
Leider wurde ich immer wieder von einem, ja, nennen wir ihn einfach „alten Bekannten“, genötigt, ihn bei seinen Exkursionen zu begleiten. Dieses Mal nannte er mir nur einfach eine Adresse und eine Uhrzeit, wann ich dort erscheinen sollte. Wie wir gleich sehen werden, hatte mein „Bekannter“ eine äußerst– hm- zupackende Art von Überzeugungskraft. Also wagte ich nicht, dem Termin fernzubleiben und traf rechtzeitig dort ein. Wie es häufig vorkommt, sollte ich dem Treffen nur als Beobachter und Zeuge beiwohnen, damit ich an geeigneter Stelle darüber berichten konnte, deswegen legte ich mir einen für derartige Anlässe angemessenen Schatten um, der mich vor den Augen der normalen Sterblichen verbarg.
Bei der Örtlichkeit handelte es sich um ein öffentliches Gebäude, in welchem ein sogenanntes „Wahllokal“ eingerichtet worden war. Offenbar hatte es mich in eine Region verschlagen, in welcher die Bewohner den lokalen Stammesfürsten mittels geheimer Wahl ermitteln durften. Ein irgendwie fortschrittlich erscheinender Brauch, aber nur dem äußeren Anschein nach, wie wir später noch sehen werden. Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen, also alles schön der Reihe nach.
Den angebrachten Hinweisschildern folgend, betrat ich also unbemerkt das Gebäude, stellte mich unauffällig in eine Ecke des einzigen Raumes und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Und richtig, genau in diesem Moment meldete sich einer der anwesenden Würdenträger zu Wort, und ermahnte den soeben aus seiner Wahlkabine kommenden Mann, mit scharfen Worten, sofort stehenzubleiben.
Wie ich befürchtet hatte, nahmen die Ereignisse nun eine unvermeidliche Wende ins Nicht-Alltägliche. Obwohl es erst Herbst war, sank die Temperatur plötzlich beträchtlich ab. Die Fensterscheiben überzogen sich mit Raureif, dahinter wurde es mit einem Mal finstere Nacht, es roch nach Schnee und ich hörte sogar Wolfsgeheul in der Ferne, wenn auch nicht weit genug entfernt für mein Empfinden.
Der derart ermahnte Mann, ein durchschnittlich aussehender Brillenträger mittleren Alters, wollte gerade dazu ansetzen, sich nach dem Grund für diesen Apell zu erkundigen, da flog die Tür auf und im Türrahmen erschien mein „Bekannter“. Für mich nicht überraschend, für die Versammelten dafür aber umso mehr. Leider hat sein Anblick auf die meisten Menschen eine doch eher irritierende Wirkung. Am ehesten lässt er sich als finsterer Prediger mit irrem Blick beschreiben. Heute trug er ein schwarzes, altmodisches Cape und die ungewaschenen, weißen langen Haare hingen ihm wie üblich unter einem abgetragenen Predigerhut ins Gesicht, unter dem Arm klemmte seine Bibel, aus der er gerne und leidenschaftlich zitierte.
Er legte auch direkt los, mit dem für ihn charakteristischen heiseren und bedrohlich klingenden Flüstern: „Oha, das ist ja eine nette kleine Versammlung und wie sprach der Herr: Wo mindestens zwei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Einige der Anwesenden, lokale Würdenträger und harmlose Bürger, wollten aufspringen, andere mit empörter Miene etwas sagen oder rufen. Der Prediger hob dem zuvorkommend mit abrupter Geste die Hand und alle verstummten und erstarrten mitten in der Bewegung. Ich deutete es bereits an: äußerst überzeugend in seiner Argumentation.
Durch die weiterhin offenstehende Tür wehte ein kalter Wind in den Raum und nun ertönte von draußen ein bedrohlich klingendes, tieffrequentes Knurren. Kurz darauf erschien ein riesiger, dunkler Wolf in der Tür, betrat den Raum und stellte sich neben den Prediger mit dem irren Blick. Mit weiterhin leiser Stimme sprach dieser, wie zu sich selbst: „Wollen wir mal sehen, wo waren wir stehengeblieben?“ Dann richtete er sich plötzlich auf, deutete wie von einer imaginären Kanzel herab mit einem Finger seiner alten, faltigen Hand auf den bebrillten Mann. „Du wolltest gerade etwas sagen, oder nicht?“
Der Mann fiel zu Boden und stammelte: „Aber ich habe doch gar nichts Schlimmes gemacht …“. Seine Stimme wurde immer leiser, als der Prediger mit schweren, langsamen Schritten durch den Raum auf ihn zuging. Ich wusste bereits, dass die Sache für ihn kein gutes Ende nehmen würde. Wenn mein „Bekannter“ in dieser Stimmung war, durfte man ihm auf keinen Fall widersprechen, oder auch nur den Anschein erwecken, es tun zu wollen. „Wie war das?“ flüsterte er heiser und um einen freundlichen Tonfall bemüht. Eine verschwendete Mühe, wie ich längst wusste.
Der Mann fing an zu weinen, die Brille fiel ihm von der Nase und auf dem Boden herumkriechend tastete er danach. Nun stand der Prediger direkt vor ihm. Alle bemühte Freundlichkeit fiel von ihm ab. Mit seinem schweren Stiefel zertrat er die Brille des Mannes, bevor er mit Donnerstimme ein weiteres Mal auf ihn deutete: „Auf den Bauch mit dir, Ketzer, kriechen sollst du und den Herrn anflehen um Vergebung für deine Sünden. Das geheiligte Symbol des Kreuzes auf diesem vom Herrn persönlich gesandten Wahlschein auf widerwärtige Weise fehlgesetzt zu haben und es derart mit dem blasphemischen Gift deiner Ketzerei zu besudeln!“
Und in diesem Stil schrie und tobte er noch eine Weile herum, seine Rede durchsetzt mit passenden und unpassenden Zitaten aus der Bibel, vorzugsweise dem älteren Teil. Wie immer in solchen Situationen schämte ich mich für ihn, dass er sich so gehen ließ und es mal wieder eindeutig übertrieb mit dem heiligen Zorn. Die anderen Anwesenden saßen und standen weiterhin bewegungslos unter dem Bann des Predigers da und schauten mit ungläubiger Miene zu, während der Unglückswurm nun schreiend vor Angst auf dem Bauch herumkroch. Der riesige, finstere Wolf stand die ganze Zeit knurrend über ihm, was nicht unbeträchtlich zur Steigerung seiner Furcht beizutragen schien.
Nach einem letzten auf den Mann herabgedonnerten „Friede sei mit dir“, richtete der Prediger sich zu seiner ganzen, nicht unbeträchtlichen, hageren Größe auf und mit ernster und nun mit einem Mal wieder ruhigen Stimme - was noch bedrohlicher wirkte, als seine Rage - verkündete er: „So, und nun kommen wir zur Urteilsverkündung und anschließend direkt zur Vollstreckung des Urteils.“ Pause. Ein hässliches, kleines Lächeln zog über sein Gesicht. Ich wusste, dies war der Teil, den er immer besonders mochte und in vollen Zügen genoss, der alte Teufel.
„Schuldig!“ kreischte er nun mit irrer Lautstärke auf den am Boden liegenden Mann herab und der Wolf schnappte mit seinen deutlich mehr als fingerlangen Reißzähnen nach seinem Nacken. Packte ihn am Genick und schleifte den schreienden und zappelnden Mann ohne erkennbare Anstrengung zur Tür und nach draußen.
Der Prediger drehte sich mit einem Ruck um zu den Zuschauern, sozusagen seiner Gemeinde, und sprach salbungsvoll, nun ganz der freundliche Seelsorger und brave Pastor: „Meine lieben Schäfchen, für euren lieben Mitbürger habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht. Am heiligen Wahltag sich derartig zu vergehen verlangt nach einer besonderen Strafe und so soll er nun auf ewig im Chor der Verdammten jammern und heulen. So folgt er mir nun nach im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und bereut seine Sünden. Was im Übrigen all jenen Fehlgeleiteten passieren wird, die das gottgegebene Wahlrecht mit Füßen treten und das vom Herrn gesegnete Symbol des Kreuzes in blasphemischer Weise missbrauchen.“
Mit diesen Worten verließ er den Raum und von draußen hörten wir erneut das Heulen der Wölfe und es war eindeutig lauter geworden.