Was gibt es Schöneres, als nachmittags auf der Terrasse zu sitzen und den Blick müßig in die Ferne schweifen zu lassen? Geistesabwesend griff ich nach der neben mir auf dem Tisch liegenden Brille und setzte sie auf. Dies sollte dazu dienen, den Blick in die Ferne zu verbessern. Doch was war das? Plötzlich sah ich einen fremden Mann vor mir an einem Pult sitzen, er sah aus, wie der Sprecher aus einem Nachrichtenmagazin und ich war wie zugeschaltet in seine Sendung „…es ist doch ganz offensichtlich, die Tatsachen liegen auf der Hand und wir können in diesem Moment schon feststellen …“ er stutzte und schaute in meine Richtung. Offensichtlich genauso überrascht wie ich.
Zu spät wurde mir klar, was geschehen war: ich hatte aus Versehen meine Spiegelbrille aufgesetzt und nicht meine normale Brille für die Fernsicht. Der aufmerksame Leser meines Logbuches wird nun sicher hellhörig und erinnert sich: bei dieser Brille, welche auf der Innenseite verspiegelt ist, handelt es sich um ein höchst wirkungsvolles Instrument zur Beobachtung von Dämonen, welche sich bevorzugt unbemerkt hinter uns im Toten Winkel aufhalten. Dem Uneingeweihten empfehle ich, nun schnellstens den betreffenden Eintrag im „Logbuch des Phantastonauten“ vom 27. November 2020 zu lesen, um dort mehr über mein großartiges Hobby, die Dämonenbeobachtung, zu erfahren und sich auf den aktuellen Stand des Wissens zu bringen.
Zurück zum Thema bedeutete dies, dass ich nun nicht mehr, wie ursprünglich beabsichtigt, die Aussicht von meiner Terrasse bewunderte, sondern, im Gegenteil, hinter mich durch die Tür auf die Wand meiner Wohnung blickte. Zusätzlich war die Oberfläche dieser Wand für meine mit der Spiegelbrille bewehrten Augen transparent geworden wie eine Glasscheibe. Doch ich sah nicht das Nebenzimmer, welches hinter selbiger Wand lag. Ich sah stattdessen, was in der Wand geschah. Für den durchschnittlich gebildeten Phantasten ist es keine große Neuigkeit zu erfahren, dass sich in den Wänden unserer Wohnhäuser eine Zwischen-Welt befindet. In dieser sah ich den eingangs erwähnten Mann an seinem Pult sitzen und mich immer noch freundlich lächelnd anschauen. Ich hatte noch den Klang seiner Stimme im Ohr, eine wirklich vernünftig und überzeugend klingende Stimme. Ich hatte beim Anhören der wenigen Worte direkt den Eindruck bekommen: was dieser Mann sagt, hat Hand und Fuß.
Leider war das auch schon alles, was an der Szenerie, die sich meiner „Spiegelbrillen-Sicht“ darbot, vernünftig und überzeugend wirkte. War meine Wahrnehmung anfangs noch unscharf und vernebelt gewesen, so klärte sich doch nach und nach mein Blick. Aus den schemenhaften Umrissen hinter der Zimmerwand wurden allmählich immer deutlicher wahrnehmbare Gestalten: dämonische Wesen, die sich um den unbekannten Mann versammelt hatten und mit verstohlenen Bewegungen um ihn herumschlichen. Nun hörte ich auch ihr Flüstern und Tuscheln. Obwohl es Worte einer mir unbekannten Sprache waren, lagen in ihnen zutiefst negative Gefühle wie Angst, Schuld, Wut und Verzweiflung offen zutage. Das Äußere der Dämonen erinnerte nur entfernt an menschliche Gestalten, die Gesichter waren höhnisch verzogen, oder zu bedrohlichen Masken erstarrt. Allen gemeinsam schien eine verzweifelte Gier nach Nahrung, ein unstillbarer Hunger nach Wärme und Licht. Ja, sie wirkten halb verhungert, einige sogar schon wie vor langer Zeit an Hunger gestorben. Das Ziel ihrer schleichenden und verstohlenen Aktivitäten schien es zu sein, dem Sprecher ihre oder seine dämonischen Botschaften zu übermitteln. Welche der Mann dann geduldig auf seinem Blatt Papier notierte, um sie später dann, übersetzt in die Sprache der Vernunft, an mich weiterzugeben.
Bisher hatte sich der Sprecher von mir unbemerkt im Toten Winkel aufgehalten und mir von dort seine schön klingenden aber inhaltlich völlig verdrehten Nachrichten zugeraunt, welche ich dann unbewusst und gedankenlos abgenickt hatte. Diese bisher im Verborgenen ablaufende Aktion hatte ich nun anscheinend aufgedeckt und damit unterbrochen. Wie lange wurden diese dunklen Botschaften nun schon übermittelt? Ein beunruhigender Gedanke.
Noch beunruhigender war allerdings die Tatsache, dass nun auch die Dämonen allmählich zu bemerken schienen, dass ihre ansonsten im Verborgenen ablaufende Mission offenbar von mir bemerkt worden war. Auch sie verstummten nun und ihr Schweigen war im ersten Moment fast noch bedrohlicher als der Lärm. Erwähnte ich schon, dass mein Hobby, das Dämonenbeobachten, hochgefährlich ist?
Doch dann geschah etwas sehr Eigenartiges; je länger die Stille sich hinzog, desto stärker wurde bei mir ein sehr angenehmes Gefühl: Endlich Schweigen. Der Klang des Schweigens enthielt eine ganz neue und für mich irgendwie lichterfüllte Botschaft. Aus dem Schweigen der Dämonen entwickelte sich ein Gefühl der Ruhe. Immer tiefere Ruhe. Und je stärker das Gefühl wurde, desto mehr Dämonen drehten sich um und verschwanden in der Tiefe der in der Wand verborgenen Zwischenwelt. Bis ich wieder allein war, nur der unbekannte Mann saß mir immer noch freundlich lächelnd gegenüber, den Stift weiterhin schreibbereit in der Hand und verschwand erst, als ich die Brille abnahm.