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Auf den Feuerstuhl

 Auch wenn aufgrund meiner bisherigen Ausführungen der Eindruck entstanden sein könnte, dass der Phantastonauten-Organismus nicht den allgemein gültigen Naturgesetzen unterliegen würde, so muss ich nun einräumen, dass es gewisse eherne Regeln gibt, die sich nicht aushebeln lassen. Eine davon lautet: Du bist was du isst.

 

 

Um diese Regel zu befolgen, ist es für den Phantastonauten von entscheidender Bedeutung, sich selbst mit geeigneter Nahrung zu versorgen. Die Grundlage dazu bildet ein bestimmtes, schwer erhältliches, namenloses Gemüse, es kann leider nur in hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen Gewächshäusern angebaut werden. Warum das so ist, werden wir gleich sehen.

 

Bei einem Blick in meine Speisekammer, wurde mir Ende letzter Woche mit Schrecken bewusst, dass es Zeit wurde, meine in dieser Hinsicht schwindenden Nahrungsmittelvorräte wieder aufzufüllen. Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, endlich meine Ernährungsgewohnheiten auf eine etwas konventionellere Basis umzustellen, so hatte ich dieses aufwendige Projekt immer wieder verschoben und nun blieb mir nichts anderes übrig, als für Nachschub zu sorgen.

 

Glücklicherweise lag die Bezugsquelle in unmittelbarer Nachbarschaft zu meiner Wohnung. Als ich dort ankam, lag das oben erwähnte Gewächshaus verlassen da. Glücklicherweise hatte ich einen Schlüssel, da ich mit dem Besitzer der Örtlichkeit eine diesbezügliche vertragliche Vereinbarung geschlossen hatte. Mühsam öffnete ich die schweren, an ein Raumschiffschott erinnernden Sicherheits-Türen (die aus einer speziellen Metalllegierung bestanden) und betrat das dahinterliegende Innere des Hauses.

 

Feuchtheiße Luft empfing mich. Der riesige Raum war regelrecht zugewuchert, da der geschäftstüchtige Betreiber außer mir noch viele andere Interessenten hatte, welche von dort ihre Nahrungsmittel bezogen. Das Gemüsebeet, welches ich suchte, befand sich etwa in der Mitte des Gebäudes und so arbeitete ich mich vorsichtig und möglichst geräuschlos durch die dschungelartige Vegetation. Zuvor hatte ich einen speziell für diesen Einsatz angefertigten Schutzanzug angezogen. Trotz dieser Maßnahme waren äußerste Vorsicht und das Vermeiden jeglicher lauten Geräusche überlebenswichtig. Die Bewohner des Gewächshauses durften unter gar keinen Umständen geweckt oder sonst wie gestört werden. Leider war ihre Anwesenheit für das Gedeihen des dort angebauten Gemüses unerlässlich und bisher hatte ich es meistens geschafft, ohne größere Schäden oder Verletzungen das Gewünschte zu bekommen und anschließend den Ort unbemerkt wieder zu verlassen.

 

Auch dieses Mal sah es in dieser Hinsicht gut aus. Ich erntete schnell und unauffällig einige der rübenartigen Feldfrüchte und stopfte sie in den für diesen Zweck mitgeführten Stoffbeutel. Dann machte ich mich auf den Rückweg zur Tür. Kurz bevor ich selbige erreichte geschah leider etwas, was sämtliche meiner Bemühungen über den Haufen warf.

 

Die Tür öffnete sich mit einem lauten Quietschen und herein trat der Besitzer, ein leider nur mäßig in den magischen Künsten bewanderter Mensch, der sich aber dafür bestens in den eher geschäftlichen Bereichen der Materie auskannte. Ohne zu ahnen, was er damit auslöste, trampelte er lautstark in die Räumlichkeit herein, meine diesbezüglichen wiederholten Warnungen ignorierend, in der Hand hielt er ein verdächtig nach meinem Mietvertrag aussehendes Blatt Papier. Bei meinem Anblick begann er ohne zu zögern damit, sich lauthals über eingebildete Verschmutzung des Mobiliars und anderen Unsinn zu beschweren. Entgeistert starrte ich ihn an.

 

Um Schlimmeres abzuwenden, komplementierte ich die lästige Person mit einigen gemurmelten Beteuerungen des Inhalts, dass dies selbstverständlich nie wieder vorkommen werde, so schnell es ging aus dem Gewächshaus, schloss die Tür hinter ihm und sah mich um, ob größerer Schaden entstanden war. Doch leider war es schon zu spät, die Bewohner erwachten aus ihrem unruhigen Schlaf.

 

Es waren nur zwei, im Normalfall dienten ihre Ausdünstungen und die starke Wärmeentwicklung ihrer schlafenden Körper dem Gedeihen der dort wuchernden Vegetation. Auch abgesonderte Körperflüssigkeit und dergleichen hatten erwiesenermaßen einen positiven Einfluss auf das Wachstum des Gemüses. Das bedeutete selbstverständlich, dass dieses nicht bloß biologisch, sondern sogar triologisch angebaut und somit bestens als Ernährungsgrundlage für Phantastonauten geeignet war.   

 

Nur wecken durfte man die Wesen nicht, denn dadurch aktivierte man ihr zerstörerisches Potential. Mir blieb nur eine Möglichkeit, um zu verhindern, dass sie das gesamte Gebäude mitsamt der darin wachsenden Vegetation dem Erdboden gleichmachten. Unverzüglich machte ich mich auf den Weg, mein Ziel war der hintere Teil des Gebäudes. Und richtig. Kaum hatte ich das hintere Drittel des Gewächshauses erreicht, da sah ich sie schon vor mir. Das erste Ungeheuer hatte soeben sein Versteck verlassen, welches entfernt an einen gemütlichen alten Lehnstuhl mit davorstehendem Fußbänkchen erinnerte. Im Schlafzustand sah das Wesen einer gutmütigen uralten Großmutter täuschend ähnlich. Nur die überall in seinem Schlupfwinkel herabhängenden schwarzen Spinnennetzte verrieten seine wahre Natur, welche sich mir nun unverhüllt offenbarte: Ein dunkelgraues, spinnenartiges Wesen, angewachsen auf doppelte Großmuttergröße. Eine dunkelgraue Ausstrahlung von lähmender Angst ging von ihr aus, welche sogar die Pflanzen im näheren Umkreis ihr Grün verlieren ließ.

 

Auf der anderen Seite des Raumes stand der andere Bewohner. Er glühte dunkelrot vor Zorn, ein ausgewachsener Feuerdrache, extrem angriffslustig und unberechenbar. Auch hier war kein Zweifel möglich über seinen Wachheitsgrad, denn im Ruhezustand erinnerte er mehr an einen braven Familienvater, der im Hobbykeller über seiner Sammlung von Flugzeugmodellen eingedöst war.

 

In der Absicht, schlimmeres zu verhindern sprang ich zwischen sie, denn sobald sie wach waren, gingen sie unweigerlich aufeinander los, und in ihrem Kampf zerstörten sie alles Lebendige in nahem und weitem Umkreis. Aber obwohl mich der Schutzanzug vor den schlimmsten Ausstrahlungen von Wuthitze und Angstlähmung bewahrte, konnte ich damit nicht viel bewirken. Dies wurde mir nun plötzlich und leider etwas verspätet bewusst.

 

In diesem Moment der Panik erschien plötzlich eine kleine Gestalt, sie leuchtete hell in einem reinen Licht und trat ohne Furcht auf die dämonischen Gestalten zu. Es war das kleine Kind, welchem ich bei meinem letzten Abenteuer im Nördlichen Wald schon einmal begegnet war (siehe „Logbuch des Phantastonauten“, Eintrag vom 15. Februar 2021). Die Ungeheuer, die zuvor begonnen hatten, laut zischend und bedrohlich knurrend einander zu umkreisen, in der Absicht im nächsten Augenblick aufeinander loszugehen, wobei meine Person sich exakt in der Mitte dazwischen befand, erstarrten plötzlich mitten in der Bewegung. Ihre Drohgebärden wurden mit einem Mal fahriger und weniger kraftvoll.  Nun ging das Kind fröhlich lächelnd auf die beiden zu und jäh näher es ihnen kam, desto kleiner wurden die beiden. Als es genau vor ihnen stand, drehte sich an der Stelle, wo zuvor das riesenhafte Spinnenwesen gestanden hatte, eine uralte Großmutter müde um und schlich zurück zu ihrem Lehnstuhl. Dort schloss sie ihre, ausgesprochen ungroßmütterlich wirkenden pupillenlosen grauen Augen und schlief ein.

 

Davor lag nun auf dem Boden, ebenfalls bereits schlafend, ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters. An der gleichen Stelle, wo zuvor noch der angriffsbereite Drache einen lauten Wutschrei ausgestoßen hatte. Aus Mund des Schlafenden züngelten müde, dunkelrote Flammen. Das Kind wendete sich mir zu, immer noch fröhlich lächelnd. Nun vernahm ich auch zum ersten Mal seine kindliche Stimme, mit welcher es mir zu verstehen gab, dass es doch alles ganz einfach sei: ich bräuchte doch nur die Oma auf einem Feuerstuhl festzubinden und sie damit zur Hölle zu schicken.

 

Ich schluckte. Mit einem Mal schien mir diese Idee tatsächlich die einfachste und auch lustigste Sache der Welt zu sein. Kichernd machte ich mich ans Werk. Band die beiden Gestalten Rücken an Rücken auf dem Stuhl fest, gab dem Mann einen Klapps auf die Schulter, so dass er einen Schwall aus Feuer und Qualm hervorhustete, was den nötigen Rückstoß erzeugte. Und dann sprang ich schnell zur Seite, denn der Feuerstuhl raste mit großer Beschleunigung auf die Glaswand des Gewächshauses zu. Die dort erscheinende Spiegelung der Flammen verwandelte sich in einen Tunnel, der tief, sehr tief hinab führte und in diese Richtung verschwand laut röhrend der Feuerstuhl.

 

Das Kind winkte der Oma noch einmal zum Abschied und drehte sich erneut zu mir. Das Lächeln war immer noch fröhlich. Und frech, ganz schön frech. Und bevor es sich umdrehte und davonging, sagte es zu mir: „Besser du verschwindest jetzt, bevor sie zurückkommen.“