
„Einen Brunnen sieht man heutzutage viel zu selten“ dachte ich bei mir, als ich mich auf dem Rückweg von einem meiner Spaziergänge im Nördlichen Wald auf den gemauerten Rand eines solchen setzte. Es tat gut, die müden Füße auszuruhen, nun fehlte eigentlich nur noch ein tiefer Schluck kühlen Wassers. Leider war der Wasserspiegel in letzter Zeit arg gesunken und so musste ich mich weit vorbeugen, um das Wasser zu erreichen. Es kam, wie es kommen musste: ich verlor das Gleichgewicht und fiel hinab in die Tiefe.
Als ich aufwachte, lag ich leider nicht auf einer schönen, bunten Blumenwiese, wie es im Märchen „Frau Holle“ erzählt wird. Ganz im Gegenteil: es war stockdunkel, roch nach Erde und ich konnte mich kaum bewegen. Zumindest war ich nicht ertrunken, denn ich befand mich nicht unter Wasser, dafür aber ohne Zweifel unter der Erde. Das „Lebendig-begraben-sein“ ist für den Phantastonauten keine völlig unbekannte Erfahrung, aber dieses Mal war es etwas ganz anderes: es gab keinen Sauerstoffmangel im verschlossenen Sarg, verbunden mit Anfällen klaustrophobischer Panik, wovon gerne in solchen Geschichten mit gruseligem Schauer berichtet wird.
Das Gefühl war angenehm, fast bequem. Als würde man unter der Bettdecke liegen, zu müde, um sich zu bewegen. Einfach mal liegen bleiben und etwas ausruhen: lass die Welt da oben sich weiterdrehen, hier unten ist es sicher, warm und ruhig. Schließe die Augen und schlafe noch ein wenig.
Doch das ist nicht der Weg des Phantastonauten, darauf liegt kein Segen und so begann ich langsam mit dem Graben und arbeitete mich unter großen Mühen durch die weiche, nachgiebige Erde nach oben.
Es folgte eine Zeit endlosen Grabens, eine Stunde verging, dann eine zweite. Meine Bewegungen wurden immer kräftiger und sicherer. Kein Licht drang durch die Oberfläche aber ich gab nicht auf und arbeitete weiter. Nach einer sehr langen Zeit, es mögen Stunden, Tage oder gar Jahre gewesen sein, war ich schließlich zu erschöpft zum Weitergraben und ich wurde von einer großen Schwäche übermannt. Und so blieb ich liegen, vor Hoffnungslosigkeit wie gelähmt.
An diesem absoluten Tiefpunkt stellte sich mit einem Mal völlig grundlos ein Gefühl der Leichtigkeit ein. Ich hörte auf, gegen den Widerstand der Erde anzukämpfen, ja, ich wurde eins mit der Erde. Anstatt weiter zu graben und mich abzumühen, bewegte ich mich nun langsam und behutsam mit der Geschwindigkeit des Wachstums einer Baumwurzel oder eines Regenwurms durch das dunkle und stille Erdreich.
Nun endlich nahm ich das Licht wahr, auf welches ich mich instinktiv zubewegte. Und schon bald brach ich durch die Oberfläche der Erde.
Vor mir sah ich eine riesige, weibliche Gestalt aufragen, wie ein Baum oder gar ein Berg. Die Riesin hatte die gewaltigen Arme ausgebreitet, ihr Körper wuchs aus der Erdoberfläche heraus, aus welcher auch ich gerade herauskroch. Ich sah, wie aus der einen Hand der Erscheinung schöne, grüne und wachsenden Dinge hervorkamen und zur Erdoberfläche herabsanken, Pflanzen, Farn und Moos. Aus ihrer anderen Hand aber regneten Feuer, Hitze und Dürre herab auf den Boden. Wo sie ihn berührten, war alles kahl und verdorrt.
Das Antlitz der weiblichen Gestalt war überirdisch schön und obwohl sie jung aussah, spürte ich, dass sie schon uralt war. Und mächtig. Sie sah mich an und sprach kein Wort zu mir. Vor Ehrfurcht konnte auch ich nicht sprechen. Doch obwohl ich mich klein und schwach fühlte, wollte ich dorthin, wo die schönen, grünen Dinge auf den Boden fielen und sofort zu wachsen begannen und so bewegte ich mich behutsam darauf zu. Als ich dort ankam, fiel die Schwäche von mir ab, vor mir öffnete sich ein Tor und ich ging ohne Nachzudenken hindurch.
Und mit einem Ruck saß ich wieder auf dem Brunnenrand und konnte im letzten Moment verhindern dass ich hineinfiel. In der Ferne hörte ich einen Hahn krähen.

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